Profiradsport hautnah
Auszug aus: Profiradsport hautnah: als Sportphysio bei der Tour de France

Profiradsport hautnah:
als Sportphysio bei der Tour de France

Markus Stephani (rechts) mit Maros Hlad.

MARKUS STEPHANI BEGLEITET DAS DEUTSCHE PROFIRADSPORTTEAM
BORA-ARGON 18 ZU DEN GRÖSSTEN RADRENNEN DER WELT

Direkt nach der Etappenankunft muss es schnell gehen. Fahrer verpflegen, die Behandlungsbank vorbereiten, massieren. Sportler für Sportler, bis spät in den Abend. Drei Wochen lang, jeden Tag. Als Physiotherapeut begleitet der 32-Jährige das im oberbayerischen Raubling beheimatete Profiradsportteam Bora-Argon 18 zu den wichtigsten Radrennen auf der ganzen Welt – auch bei der diesjährigen Tour de France war Stephani im Einsatz. „Von früh bis spät ist immer etwas zu tun.“ Seit 2014 ist er Teil der Mannschaft. Als selbst aktiver Radsportler und Triathlet – Stephani finishte bereits drei Ironmans – interessierte er sich früh für die Arbeit im Sport. Nach seiner Weiterbildung zum DOSB-Sportphysiotherapeut betreute er unter anderem die Nationalmannschaften der Schwimmer und der Snowboarder –

2014 folgte dann die Anfrage von Bora-Argon 18. „Erst war ich als Freelancer bei einer Rundfahrt in Polen dabei. Das hat gut geklappt, und als dann 2015 eine Stelle frei wurde, haben wir uns schnell darauf geeinigt, dass ich fest für das Team arbeite“, erinnert er sich. In seiner zweiten Saison gehört Stephani mittlerweile zum festen Stamm der Mannschaft. Die Kapitäne kommen zu ihm, wenn sie Hilfe brauchen, bei der Tour de France ist er als Betreuer gesetzt. „Trotzdem bin ich nervös, in drei Wochen kann immer etwas passieren“, weiß er.

In diesem Jahr war das bereits auf der Auftaktetappe der Fall: Der irische Sprinter Sam Bennett, einer der hoffnungsvollsten Kandidaten bei Bora auf einen der begehrten Etappensiege bei der Tour, stürzte am ersten Tag schwer. „Ein gebrochener Finger, zahlreiche Schürfwunden, Prellungen, Hämatome und Verspannungen – Sam hat dann natürlich besondere Zuwendung benötigt, um mit diesen Verletzungen überhaupt über die drei Wochen bis ins Ziel nach Paris zu kommen“, so Stephani, der nach sturzreichen Etappen schon einmal die halbe Mannschaft
auf der Bank hat. „Bis kurz vor Mitternacht wird dann behandelt, gedehnt, eingerenkt. Und am nächsten Tag geht es dann um sechs Uhr früh weiter mit den Vorbereitungen für die Etappe.“ Die Tour de France – sie ist nicht nur für die Fahrer, sondern auch für die Betreuer eine Belastungsprobe.

Ein Tag bei der Tour de France
Ein Tag beim wichtigsten Radrennen der Welt beginnt für Markus Stephani meist mit der Vorbereitung des Teamfahrzeugs. „Man schaut, dass genügend Energy-Gels und Riegel für die Fahrer während des Rennens bereitstehen. Und natürlich werden – wenn nötig – noch einmal Tapes geklebt, einzelne Wirbelkörpersegmente mobilisiert oder Funktionsmassagen für die Wettkampfvorbereitung durchgeführt“, erzählt er. Pause gibt es auch während des Rennens keine: In der Verpflegungszone zur Etappenmitte reicht Stephani den Fahrern Stoffbeutel mit Essen und Getränken, bis zu 8.000 Kalorien benötigen die Sportler täglich. „Dann geht es sofort ins Hotel – die Vorbereitungen für die Behandlungen am Abend.“

Die dortigen Schwerpunkte: radsporttypische Beschwerden. „Man kann sich vorstellen, dass schon die Haltung der Fahrer dauerhafte Überbeanspruchung, besonders der Brustwirbelsäule und der Halswirbelsäule, zur Folge hat.  Die Aufrechterhaltung der Mobilität in diesem Bereich spielt da eine sehr große Rolle – aber nicht nur der Haltung wegen: Wenn man alleine den Atlas-AxisÜbergang betrachtet, spielt das bei der Ausdauer und Muskelarbeit funktionell reflektorisch ebenfalls eine wichtige Rolle – oder im Anschluss an ein Rennen, um wieder zu regenerieren. Daher ist mir dieser Bereich in der Behandlung sehr wichtig“, erzählt er. „Darüber hinaus ist auch die untere aufsteigende myofasziale Kette, angefangen vom Sprunggelenk bis hin zum Tractus iliotibialis und zu den Glutäen, ein wichtiger, immer wiederkehrender Problembereich – häufig mit Kniebeteiligung. Tiefgreifende Faszientechniken gepaart mit zielgerichteten Mobilisationen der Gelenke und des Beckens kommen dabei zur Geltung“, fährt er fort.

Das Medical Team von Bora-Argon 18 bei der Tour de France besteht „aus einem Arzt, Masseuren und Physiotherapeuten und mir als Physiotherapeut und Osteopath“, erzählt Stephani.

Bei der diesjährigen Tour betreute er zwei Fahrer. Zu arbeiten beginnt er mit seinen Athleten allerdings schon lange vor der Frankreich- Rundfahrt. „Es beginnt in der Regel im Januar mit dem ersten Trainingslager. Hier erfolgt ein Bodycheck mit Screening, um den Status quo festzulegen. Vermeintliche Defizite werden so erkannt und im nächsten Schritt angegangen. Nicht selten erhalten wir im Vorfeld von den bis dato behandelnden Ärzten und Therapeuten aus den jeweiligen Ländern der Fahrer Befunde und Behandlungsberichte. Da der Großteil der Sportler über ganz Europa verteilt lebt, werden diese von mir nur während der Trainings und der Rennen betreut. In Eigenregie muss von den Athleten allerdings auch ein spezielles Mobilisierungsprogramm mit dem Covemo
durchgeführt werden“, berichtet er.

Hautnah am Renngeschehen dabei
Während der Massagen ist Stephani für die Radprofis dabei nicht nur der „Muskelflüsterer“, sondern oft auch Vertrauensperson. „Besonders, wenn es mal nicht so gut gelaufen ist, bin ich den Fahrern auch eine moralische Stütze“, so der Sportphysio. Bei den Sitzungen helfen ihm dabei seine eigenen Erfahrungen als Sportler. „Wenn man radsportaffin ist, versteht man natürlich die ganzen muskulären Abläufe besser. In der Disziplin Zeitfahren wird aufgrund der aerodynamischen Sitzposition beispielsweise das Gesäß mehr belastet, bei Bergetappen mehr der Rücken. So weiß man sehr schnell, was fehlt“, erklärt er. An seiner Arbeit schätzt er vor allem, „dass es bei Leistungssportlern um die letzten Prozent geht“. „Und wenn die Sportler dann gut fahren, bekommt man direkt ein Feedback, dass man seine Arbeit richtig gemacht hat.“ 2016 war es etwa Radprofi Paul Voss, der die Bora-Equipe
zum Jubeln brachte: Unbekümmert sorgte der 30-jährige Rostocker mit seinen zahlreichen Attacken in den drei Tour-Wochen für eine große TV-Präsenz des Teams – einen Tag schlüpfte Voss sogar in das gepunktete Trikot des besten Bergfahrers. „Das war ein Highlight, die Euphorie hat das ganze Team mitgetragen“, blickt Stephani zurück. Seine tiefen Einblicke in die Radsportwelt machen ihm dabei auch auf anderer Seite Mut: Die Zeiten, in denen Doping eine Rolle gespielt hat, seien „Gott sei Dank vorbei. Bei uns im Team gibt es so strenge Regeln – der Radsport hat hier viel getan“, erzählt er. Profiradsport hautnah auf der Behandlungsbank und im Rennen vom Teamfahrzeug aus: „Wenn man erst einmal involviert ist und merkt, wie viel Aufwand und Logistik hinter einem Radrennen wie der Tour stecken, fiebert man direkt noch mehr mit. Und als Physio und Osteo kann ich sogar noch einen Teil dazu beitragen, damit es für das Team besser läuft“, so der Geretsrieder, der bei Bora seinen Platz gefunden hat.
Im kommenden Jahr will das Team in die WorldTour, die höchste Liga des Weltradsports, aufsteigen. Dazu verpflichtete man mit dem slowakischen Weltmeister Peter Sagan jüngst einen absoluten Topstar. „Ich freue mich riesig auf den Aufstieg in die WorldTour. Auch wenn die Belastung noch einmal steigen wird – therapeutisch und mental“, so Stephani, der auch bei der Tour de France wieder mit von der Partie sein wird. „Ein Frankreich-Urlaub wird das aber wieder nicht“, lacht er. Von früh bis spät gibt es schließlich immer etwas zu tun: Fahrer verpflegen, die Behandlungsbank vorbereiten, massieren. Sportler für Sportler, bis spät in den Abend. Drei Wochen lang, jeden Tag. Als Physiotherapeut beim größten Radrennen der Welt.

AUTOR:
Werner Müller-Schell lebt und arbeitet als Journalist im bayerischen Ainring. Sport ist eines der Hauptthemengebiete des 29-Jährigen, der unter anderem bereits mehrere Bücher zum Thema Radfahren veröffentlicht hat. So war es auch eine Reportage über die Tour de France, im Rahmen derer er das Arbeitsumfeld von Markus Stephani kennenlernte.

BIBLIOGRAFIE:
DOI 10.1055/s-0042-116676
Sportphysio 2016; 4: 180–184
© Georg Thieme Verlag KG
Stuttgart ∙ New York ∙ ISSN 2196-5951

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